Meerweibchenuhr und Winterreise auf der Ollen Phantastische Geschichte über das Stedinger Land
Personenliste:
Erzbischof Gerhard von Bremen
Graf Johann von Oldenburg: sein Lehnsmann
Boleke von Bardenfleth und Tammo von Huntorf:
Heerführer der Stedinger Bauern
Hermann: Marschendichter aus Rechtenfleth
Wille Melle: Winterreisender in frostiger Zeit, Poet und Gelehrter,
verwandelt Leiden in Poesie.
Lebt in Konfrontation mit der rauen Wirklichkeit,
die unbedingte Treue und Liebe nicht kennt.
Sichtlich von Brigid fasziniert.
Felix Sprung: Libellenschreiber, gibt eine Zeitung namens Bildnis heraus.
Dandy und Lichtgestalt, schreibt zauberhafte Liebesbriefe.
Brigid: Luftgeist, Studienkollegin von Lorelei, zierliche junge Frau
von ätherischer Durchsichtigkeit.
Lorelei: Undine, Ich-Erzählerin, Vertraute von Wille.
Dicke weiche Flocken wirbelten vor den hohen Fenstern unserer Familienbibliothek und im Kamin leckten die Feuerzungen an einem baumstammdicken Scheit. Über den Bücherwänden hingen noch die Tannengirlanden und Mistelsträuße. Für die Zeit der Zwölf Raunächte hatte ich meine Studienfreundin Brigid und zwei Freunde vom Poetenkreis eingeladen. Während draußen die Wilde Jagd über den Himmel stürmte, war es drinnen einschläfernd warm und wir vergnügten uns mit Losspielen und Mummenschanz. Dabei verkleidete Wille sich als Balletteuse und Brigid lachte so sehr über seine Verwandlung als Winterwanderer mit seinen stöckerigen Männerbeinen unter dem Schneeflocke-Tüllröckchen, dass ihr die Luft wegblieb.
Brigid modelte nebenher. Sie war dünn, lebenshungrig und immer in Bewegung. Ein Windhauch war ihr ständiger Begleiter. Gerade griff die Brise in ihr langes schwarzes Haar und wehte es spielerisch um ihr Gesicht. Wille strich beleidigt über seinen gestutzten Bart. Brigid blickte ihn abbittend an und lächelte ihm zu – ein sehr langes Lächeln.
Irritiert klemmte Wille sich umständlich ein Monokel vor das Auge und beugte sich über seine Gedichte. Brigid setzte sich neben ihn und las mit.
»Nicht so schlecht und sehr gelehrt«, lobte sie. Wille errötete.
»Heute ist ein Jelängerjeliebertag«, schwärmte er, als es draußen an die Tür klopfte.
Felix, unser zweiter männlicher Gast, trat herein und brachte einen Schwall Kälte mit. Er strich lässig das feuchte blonde Haar aus der Stirn und stellte sich vor: »Felix Sprung, Sohn reicher Eltern.«
Wille nickte förmlich: »Wille Melle, Hofrat und unbehauster Mensch in einer erkalteten Welt.«
Augenblicklich begann Felix, die Umgebung in seinen leuchtenden Charme zu tauchen. Es war, als sei plötzlich ein Licht aufgegangen. Mir gab er einen Kuss.
»Süße, wie immer hast du mich gefangen in den Netzen deiner Schönheit!«
Dabei kippte er eine Ladung nassen Schnee von seiner Pelerine auf mich drauf. Nass zu werden fand ich wunderbar.
Während wir noch lachten, entfaltete sich mit einem Knall am Mast unserer Meerweibchenuhr eine Flagge mit dem Oldenburger Wappen und zum Klang der Oldenburger Hymne ‚Heil dir o Oldenburg' fiel eine Pergamentrolle heraus.
Die Uhr war eine magische Antiquität und die Wächterin der Zauberkräfte unserer Familie. Das Gehäuse hatte die Form einer Hansekogge. Dieses puppenhaft kleine Schiff wurde immer lebendig, wenn unsere Familie sich in Gefahr begab. Noch lag es mit einer dicken Schneemütze auf der Rahe, an der Seite festgefroren im Eis auf dem Serviertisch. Ich entrollte das Pergament:
»Bin jetzt Lehnsmann des Bremer Erzbischofs. Stedinger Bauern verweigern Zahlung des Zehnten. Benötige Kurierdienst.
Johann Graf von Oldenburg.«
»Die Nachricht ist an meine Großmutter, sie ist mit ihm verwandt, aber sie ist auf Reisen und noch lange unterwegs. Warum können wir nicht stattdessen fahren?«, fragte ich in die Runde. Die Vorstellung war einfach zu verführerisch!
»Der Befehl in dem Schreiben wird unserer Meerweibchenuhr Lebendigkeit einhauchen und wir könnten mit ihr eine Schiffsreise machen. So eine günstige Gelegenheit kommt sicher nicht so schnell wieder. Wir unternehmen eine Kundschafterfahrt mit unserem Zauberschiff auf dem Fluss Ollen, getarnt als Lustreise durch das Stedinger Land!«
Brigids Augen blitzten.
Wille neigte seinen blonden Lockenkranz: » ... und unseren Dichterfreund Hermann auf einige Schlendertage besuchen ... «
Hermann wohnte in der Rechtenflether Marsch.
Felix nickte. Er blickte mit seinen hellblauen, fast durchsichtigen Augen in die Ferne und sagte: »Ich komme auch mit und fahre dann weiter auf meine Insel im Watt.«
Ich rüttelte an der Uhr und klopfte sie vorsichtig aus dem Eis. Das Schiffchen erwachte zum Leben. Es wuchs und wurde immer größer - über zwanzig Meter lang.
Die Galionsfigur, eine wunderhübsche Meerjungfrau rekelte sich aus einem langen Zauberschlaf und am Heckspiegel erglühte der Name Azimut.
In euphorischer Stimmung gingen wir sogleich an Bord für unsere erste Nacht.
Wille schrieb an Brigids Kajütentür: Gute Nacht, ich hab an dich gedacht.
Salbungsvoll erklärte er: »Ich bin gut für sie, ganz bestimmt mag sie alles Solide.«
Wie sehr er sich täuschen sollte!
Das Schiff begann angenehm zu schaukeln und zu wiegen. Herrlich ausgeschlafen brachen wir im blauen Dunkel der kalten Morgenluft noch vor der Morgendämmerung auf zu einer Reise ins Ungewisse.
Der Mast knackte, die Taue summten und die Holzwände knarrten. Das Segel füllte sich, die Azimut nahm Fahrt auf und stürmte lustvoll dahin. Gischt sprühte über das Deck und es roch förmlich nach Abenteuer.
Beim Frühstück in der Messe beargwöhnten sich die beiden Poeten aufmerksam und sofort begannen sie zwischen Schlucken heißen Tees und Bissen gebutterter Toastscheiben erst zu geistreicheln und dann zu streiten.
Wille wollte als Schriftsteller die Welt verbessern. Im Brustton der Überzeugung führte er als Beweggrund seinen Idealismus an.
Felix meinte, er wolle auch die Welt verbessern, schließlich sähe er sich als Anwalt der kleinen Frauen und Männer und seine Morgenzeitung das Bildnis sei ein Abbild der Wahrheit; aber er gab auch zu, vor allem wollte er an seiner Zeitung verdienen.
Wille schäumte: Felix sei ein snobistischer Emporkömmling, ein Pasquillenschreiber ohne Ausbildung. Er würde lediglich Emotionen statt Informationen verkaufen. Seine Nachrichten seien medialer Ausschnittsdienst. Er schimpfte weiter, Felix behaupte zwar, ein meinungsbildendes Intelligenzblatt zu redigieren, dieses sei aber nichts weiter als ein haarsträubendes Machwerk.
Felix antwortete launig: »Meine Nouvelles nouvelles sind immer das neueste Neueste«, und blieb unerschütterlich witzig, verbindlich und liebenswürdig.
Neid nagte an mir, als er Brigid mit einem charmanten Lächeln ein prächtiges Paar Ohrringe überreichte. Sie waren besetzt mit Saphiren in genau der gleichen herrlich strahlend blauen Farbe wie ihre Augen.
Geld spielte keine Rolle, Felix erzielte hohe Einkünfte mit seinem Nachrichtenblatt, da konnte Wille ätzen soviel er wollte.
Wille spreizte sich unbeholfen, er war lehrerhaft und spießig. Felix demütigte ihn und wollte ihn übertrumpfen. Die Frage lautete: Wer bekommt das Mädchen?
Schließlich schlug ich vor, an Deck zu gehen, um die Gemüter etwas abzukühlen. In dicke Umhänge gehüllt standen wir an der Reling des Achterkastells in der feuchten Kälte.
Verbiestert blickte Wille Felix hinterher und sagte: »Mir war er gleich unsympathisch.«
Grimmig ruckte er an seinem biederen Hemdkragen um sich Luft zu verschaffen, dabei musterte er die knatternde Fahne über der Kajüte.
»Der Wind spielt drinnen mit dem Herzen, wie auf dem Dach, nur nicht so laut«, stellte er fest.
Schnee fiel langsam in kleinen weißen Flocken. Wir hatten unsere Mäntel bis über die Ohren gezogen und verfolgten die tanzenden grauen Schaumkronen in unserer Fahrspur.
Die Azimut lag gut am Wind. Sie rüttelte, stampfte und hämmerte mit fliegenden Segeln durch die kurzen Wellen. Die Grenze zum Stedinger Land erreichten wir an der Furt der Ochtummündung bei Deichshausen. Die Sicht wurde klar und weit.
Wir konnten eine neue starke Brücke ausmachen und einen mit einigen Männern besetzten Landwehrgraben.
Plötzlich näherte sich inmitten einer mächtig aufwirbelnden Schneewolke ein Ritterheer. Herolde auf großen Schlachtrössern trugen wehende Fahnen des Erzbistums Bremen und der Grafschaft Oldenburg. Pferde wieherten und Waffen klirrten. Die unbewaffneten Männer auf der Grenzbefestigung liefen davon, als sie das Heer erblickten und die Ritter stürzten ihnen hinterher.
Aber es war ein Hinterhalt: Ein verstecktes Bauernheer stürmte aus dem Hemmelskamper Wald und nahm das Ritterheer von zwei Seiten in die Zange.
Der Schlachtruf der Stedinger stieg in den Himmel: »Wahr di Herr, de Bur de kummt!«
Die Ritter glänzten in Helmen und Kettenhemden, während die Bauern nur einfache Hemden und Spieße trugen. Die adeligen Herren blickten voll Hohn und verfolgten sie. Aber die Bauern lockten die schwer gepanzerten Ritter auf den weichen Boden eines Sumpf- und Moorgebietes. Die Pferde sanken sofort ein. Schlamm spritzte auf, wir hörten das Stampfen von Hufen und die Schreie der Kämpfenden.
Die Stedinger erbeuteten die Standarte mit dem Banner des Grafen von Oldenburg. Als es in den Morast fiel, floh Erzbischof Gerhard und verließ seine kämpfende Armee.
Tote und Verwundete, abgeschlagene Köpfe und Arme lagen auf dem Boden. Das Heer der Edelleute war geschlagen.
Zitternd kappten wir unseren Oldenburger Wimpel und würgten ihn dabei ab, als er gerade mit Inbrunst sang: ‚... freier Männer Kraft ...'.
Es war ein Moment der Schande. Mein Magen krampfte sich vor Furcht zusammen. Die Azimut drehte bei und flüchtete. Ein kalter Wind blähte unsere Segel. Der Himmel leuchtete scharlachrot über der blutgetränkten Erde.
Das Land war in Nebelschleier gehüllt. Geschockt und schreckensbleich tasteten wir uns in einer mühsamen Schleichfahrt durch eine weiche wollige Nebelbank nach Bremen. Böiger Wind kam auf.
Beim Festmachen am Ufer der Weser flog ein Wurftampen mit einem Brief über Bord. Das Schreiben trug ein dickes Siegel, das aussah wie eine bärtige Frau am Kreuz und die Inschrift: Universitas Stedingorum - Republik freier Bauern.
Felix öffnete die Botschaft.
»Eine Nachricht von Hermann, und oh, nein ... der Deichgeschworene
Dete ton Diek hat überall dazwischen gekrakelt!«
»Liebe Freunde! Hermann von der Lippe ist mit seinen Söldnern in das Stedinger Land eingedrungen und hat hier geraubt und gemordet. Die Stedinger Bauern haben den Eindringling erschlagen. ... adeligen Strauchdieb ...
Erzbischof Gerhard von Bremen will seinen Bruder rächen.
Erste Siedler aus Holland haben das versumpfte Land durch den Bau von Gräben und Deichen urbar gemacht. Deshalb waren sie auch nur den Kleinen Zehnten abgabepflichtig. Sie wollen niemandem untertan sein.
Jetzt hat das Land fette Weiden und stattliche Höfe und der Erzbischof fordert den Grossen Zehnten, auch vom Getreide. ... we betal blot den Lüttjen Teinten von daat Veeh den use Voerollern geben hefft. Den Groten Teinten von den Korn wilt se nu ok hebben, se seggt de olfte Garbe, de hört use Karke to! We hefft in'n Stegelann' siet Minschentieden blot jümmer den lüttjen Teinten geben un das is rech ...
Weil er es nicht mehr alleine mit seinen Söldnern und der Hilfe seines Lehnsmannes, des Grafen von Oldenburg schafft, will der Erzbischof die Stedinger der Ketzerei anklagen. Deshalb erhebt Herr Gerhard schwere Verleumdungen: Die Stedinger leisteten Götzendienste und pflegten heidnische Bräuche.
Er will nicht nur einen Krieg, sondern einen Kreuzzug gegen die stolzen Stedinger führen, um seine Macht zu vergrößern. Gegen Ketzer wird das Kreuz gepredigt.
In Wirklichkeit geht es aber um die Abgaben. Die Freibauern erkennen nur den Kaiser als ihren Herrn an. Land, das sie bewohnen haben sie urbar gemacht. Sie meinen, wer Tribut zahlt, ist nicht frei. ... we wehrt us gegen dat Water un ok noch gegen Herrn Gerhard. Blots Gier um Geld un Good ...
Die Stedinger Bauern sind ein wehrhaftes Volk, sie fürchten den Kampf mit den Söldnern und Rittern nicht und wollen den Herren aufs Haupt schlagen ... lever dod as slav ... Hermann allhier«
Felix ließ den Brief sinken und wir blickten uns an wie vom Donner gerührt.
»So herum sieht die Sache aber ganz anders aus!«
Nachdenklich betraten wir durch einen Torbogen in den dicken Steinmauern die Bremer Residenz. Oben war ein Wappen mit zwei gekreuzten silbernen Schlüsseln auf rotem Grund und die Zahl 1234 eingemeißelt. In einem Gewirr kleiner Gassen drängten sich schmale Holzhäuser eng aneinander.
Die Bürger und Kaufleute standen beisammen; es herrschte Erregung und Gerüchte machten die Runde. Rauflustige Söldner torkelten betrunken vorüber und fuchtelten mit ihren Waffen.
Wir suchten den Bremer Dom. Gerade schritt Erzbischof Gerhard geschmückt mit prunkvoller Mitra und Krummstab hinein und umklammerte dabei hochmütig sein Brustkreuz. Kriegerisch blinkten ein Kettenhemd und ein Schwert unter dem violetten Messgewand. Während seiner Predigt donnerte er:
»Die Ketzerei soll ausgerottet werden! Hier habe ich das Handschreiben des Heiligen Vaters, eine Bulle aus dem italienischen Anagni. Papst Gregor schleudert den Bann gegen die gottlosen Stedinger. Sie sind Ketzer, die sich Rat bei weisen Frauen und Wahrsagern holen und ihren heidnischen Bräuchen nicht abschwören wollen. Gegen sie wird das Kreuz gepredigt. Ein Kreuzfahrerheer wird zur gewaltsamen Bekehrung der Stedinger ausziehen und sie werden endlich erbarmungslos vernichtet.«
Er erhob eine dicke Kerze: »Wir sprechen über die Stedinger, die ketzerisch und gottlos sind, den Bann aus! Tammo von Huntorf, Boleke von Bardenfleth und das ganze halsstarrige, steifnackige und widerspenstige Bauernvolk der Stedinger: Anathema sit!«
Er stieß die Kerze mit Gewalt gegen den Steinboden und ließ sie fallen, nachdem sie verloschen war.
»Das müssen die Anführer der Bauern sein«, wisperte Brigid dazwischen.
»Ungehorsam ist Götzendienst! Die Stedinger verweigern uns den Zehnten und wollen auch keine Klöster auf ihrem Boden. Reiche Beute ist euch gewiss! Auch voller Ablass aller Sünden genau wie bei einer Kreuzfahrt nach Jerusalem, ihr kommt nicht ins Fegefeuer sondern gleich in den Himmel!«
Draußen brach die Nacht herein. Die Trommelwirbel der Werber riefen zu den Fahnen. Bremer Ratsherren in langen Mänteln mit pelzverbrämten Kragen strebten dem Bremer Ratskeller zu. Wir folgten ihnen die Stufen zum Gewölbe hinunter.
Eines der Priölkenseparées war frei und der Saaldiener stellte eine Schüssel Labskaus garniert mit Rollmöpsen, Eiswetteschnaps in kleinen Gläsern und eine Zinnkanne mit schäumendem Bier vor uns hin.
Wir hörten die erregte Stimme eines Ratsherren nebenan: »Papst Gregor hat die Inquisition den Dominikanern oder domini canes, den Hunden des Herrn, übertragen und ist bereit, jeden zu verdammen, den sie der Ketzerei bezichtigen. Es ist ein Kampf um mehr Macht. Die Stedinger werden gebannt, den Schlag führen dann die Kirchenfürsten und ihnen gehört auch die Beute. Aber der Erzbischof macht Zugeständnisse an die Bremer Bürgerschaft und die Kaufleute. Die Zölle im Erzbistum Bremen werden aufgehoben und wir erhalten einen Anteil der Beute aus dem Stedinger Land.
Ein Kreuzfahrerheer soll aufgestellt werden und Fürsten, Grafen, Barone und Abenteurer aus Geldern, Brabant, Seeland, Oldenburg und Flandern werden gegen die Stedinger ziehen.
Dieses gewaltige Heer wird dort eindringen und dann werden die Waffen sprechen, denn gewaltsame Bekehrung bedeutet Vernichtung.«
Wir schlichen uns wieder an Bord. Aus dem Salon wehten romantische Orchesterklänge und einladendes Flaschenklirren. Ein beinahe voller Mond goss silbernes Licht über Wasser und Deiche. Lautlos glitt unser Schiff in einer Nachtfahrt über den glatten Strom dahin.
Brigid trank Prickelwein aus der Flasche, ihr perlendes Lachen wurde hemmungslos. Ein Luftzug zupfte mit unverschämt beweglichen Fingern an ihrem Gewand und lockerte den Ausschnitt. Felix bekam den Gesichtsausdruck eines Jägers, der ein seltenes Wild erblickte.
»Mondbeglänzte Zaubernacht«, murmelte er verführerisch in ihr Ohr, »wollen wir?«
Er führte sie auf die Tanzfläche. – Ein langer schlanker, ganz blonder Mann, der auch noch wunderbar elegant tanzen konnte.
Wille tanzte nicht, aber er trank viel. Brigid wirkte derangiert. Ihr Rock bauschte sich. Wille saß steif und verlegen neben ihr und schaute sie begehrlich an.
Felix spottete, seine keusche Anbetung entspräche sowieso nur Sitte und Gewohnheit. Willes durchsichtige Wangen wurden augenblicklich blutrot. Auf seinem Antlitz spiegelten sich nacheinander unglückliche Liebe, labiles Selbstwertgefühl, Selbstzweifel und Eifersucht.
»Alles eines Irrlichts Spiel«, wehrte er ab.
Felix begann ungeniert, Brigid zu küssen und an ihrem Strumpfband zu ziehen. Nun wirkte er wie ein Mann, der sich sicher war, dass es ihm gleich gelingen würde, das begehrte Wild zu erlegen.
Am nächsten Morgen erreichten wir Hörspe. Wille war in gedrückter Stimmung.
»Hier soll es einen malerischem Kiekpadd geben ... «, versuchte ich ihn aufzumuntern, » ... lass uns mal ein bisschen gehen.«
Unter bleiernem Himmel und bei eisigem Wind unternahmen wir wie Pflanzendetektive eine Promenade pittoresque über einen vom Frost rutschigen Knüppelweg.
Ich entdeckte im gefrorenen Graben eine Grünpflanze, die versuchte das Eis anzuknabbern.
‚Krebsscherenstecklinge – nicht pflücken! Kann Finger abtrennen!',
stand auf einer Schautafel daneben. Wir betrachteten grüne Tränenweiden und Wille bückte sich nach einem schwarzen Blümlein Vergißmein. Ich bemerkte, dass er weinte. Verlegen wischte er eine Träne fort.
»Gefrorne Tropfen fallen von meinen Wangen ab«, nuschelte er.
»Ich bin verlässlich, aber langweilig. Ein unglücklich Liebender mit einer unerfüllten Liebe. Ein Fremdling, der das Leben und die Menschen flieht und jetzt schaue ich nur noch tote Natur.« Er seufzte entsagend.
Ich lächelte ihm aufmunternd zu: »Du bist ein verzweifelter Wehmelle in einem dunklen Seelendrama!«, und bot ihm aus einer mit Weidenruten umflochtenen Flasche einen Seelentröster der Marke ‚Wider jedes Weh' an.
»Nur Täuschung ist für mich Gewinn«, gab er zur Antwort und trank in einem Zug die ganze Flasche leer.
Als wir zum Schiff zurückkehrten war frischer Schnee gefallen. Wille ging an Deck durch die Schneeverwehungen und suchte Brigids Fußspuren.
»Ich such im Schnee vergebens nach ihrer Tritte Spur. Ich liebe sie, ich liebe sie, ich liebe sie ... «, hörte ich seine Stimme leiser werden.
Gurgelnd und rauschend jagte die Azimut auf der Ollen voran. Dämmerung fiel herab als wir an der Flusstreppe des Gasthofes Bremer Slötel in Bardewisch landeten. Am tiefen Strohdach der Schenke hingen Eiszapfen. Starke Pfosten und Querbalken trugen ein Eichenfachwerk und von dem Giebel grüßten zwei Pferdeköpfe, das alte Wotanszeichen.
Felix feixte: »Das meinte der Erzbischof wohl mit heidnischen Bräuchen?«
Die Nacht wurde grauschwarz, alle Sterne waren ausgelöscht. Graupelschauer knallten wie Kugeln an die dunklen Fenster. Beim Schein von Fackeln wurden auf der Dönz unter den rauchgeschwärzten Deckenbalken Terrinen mit Grünkohl und Pinkelwurst aufgetragen.
Felix hatte eine festliche weiße Krawatte umgebunden. Er saß an einem rohen Eichentisch und speiste genussvoll mit einem Holzlöffel Röstkartoffeln aus einer Kumme.
Wille sagte abschätzig: »Je nun, sie haben ihr Teil genossen.«
Brigid aß gar nichts. Ich rückte neben sie. »Ich muss mal mit dir reden. Wille tut mir leid. Warum behandelst du ihn so?«
Sie antwortete: »Wille malt von mir ein Sehnsuchtsbild. Sinnliches Begehren, verfallen an die Magie ‚unergründlicher Schönheit'. Einen reinen Liebeshimmel ohne Untreue und Sünde, pedantisch an seinen Minnebanden gehalten.
Felix hingegen liebt in den Frauen nur sich selbst und die Eroberung. Er umwirbt mich, um Wille auszustechen.
Und ich bin nur ein wildes Mädchen, eine Hedonistin auf der Suche nach dem nächsten Kick.«
Es wurde bitterkalt. Über Nacht fror die Ollen zu und unser Schiff saß in einer dicken glasklaren Eisschicht fest. Gegen Mittag war die Welt hinter dem Deich wie verzaubert und in wundersames weißes Licht getaucht. Der Schnee funkelte in der Sonne und wir veranstalteten ein Eisvergnügen auf dem gefrorenen Fluss. Raureif glitzerte wie Kristall an den Bäumen und die kalte Luft stach.
Brigid war sprühender Laune. Sie trug einen hellblauen Umhang, gefüttert mit Schwanendaunen. Anmutig und schnell wie der Wind glitt sie auf ihren scharf geschliffenen Kufen, dass das Eis nur so umherstäubte.
Felix stampfte mit den Füssen und rieb sich die behandschuhten Hände.
Da rollten über den gefrorenen Deich unter lautem Klirren und Klimpern goldglänzende Münzen herüber und wanderten in einer endlosen Reihe Felix hinterher.
Wille kam herbei. Er hatte vergessen, seine Schuhe anzuziehen und wirkte zermürbt und orientierungslos. Barfuss stand er auf dem Eis, wankend vor Kälte. Seine Einsamkeit stand im krassen Gegensatz zu unserer Heiterkeit. Er zeigte auf die Geldstücke und fragte: »Was ist das denn?«
Mit großspuriger Geste erklärte Felix:
»Das ist meine ‚Groschenspur', die fallen aus meinen Zeitungen und anschließend laufen sie mir überall hin nach.«
Brigid versuchte ein hysterisches Lachen zu unterdrücken.
Bestürzt musterte Wille den wandernden Reichtum. »Ich habe so oft schon geliebt, bin aber kein Mal wiedergeliebt worden. Dies ist eine Welt, in der nur Geld die zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmt«, sagte er mit hohler Stimme.
Er blickte unter seine Füße: »Der du so lustig rauschest, du heller, wilder Fluss, wie still bist du geworden. Liegst kalt und unbeweglich im Sande hingestreckt.«
Ich half Wille, seine Schuhe anzuziehen, schob ihn an ein warmes Kohlebecken zum Aufwärmen und drückte ihm einen Becher heißen Glühwein in die starren Finger.
Wir kehrten zurück in die Schiffsmesse. Brigid saß in sich gekehrt und grüblerisch allein am Fenster. Ein Hauch von Schwermut lag über ihr und ließ sie gleichzeitig raffiniert und naiv, betörend und unschuldig wirken. Felix blickte sich verstohlen um und sachte glitt ein Billet doux in Brigids Mieder.
Aber Wille bemerkte es und fing sofort an zu geifern. »Minneliederlicher«, schnaubte er. »Es ist anscheinend notwendig, bei einer Dame etwas mehr zu suchen als in einer Konversation gegeben werden kann. Und auf ihre höchste Gunst loszusteuern und die unter dem Rock befindlichen Backen zu betasten, verlangt wohl rasches Handeln. Ich aber suche ewige Liebe und Treue!« Plötzlich schoss er kerzengerade in die Höhe.
»Vielleicht sollte ich ihm einfach eine in die Fresse knallen«, stieß er hervor und ein kleines Licht glomm in seinen Augen, aber dann fiel er wieder resigniert in seinem Stuhl zusammen. Traurig betrachtete er die Eisblumen auf den mit Blei eingefassten runden Glasscheiben der Kajüte.
»Ich habe noch nie ein Liebesgedicht geschrieben«, klagte er.
»Ich träumte von Lieb und Liebe, von Herzen und von Küssen. Doch an den Fensterscheiben wer malte die Blätter da? Ihr lacht wohl über den Träumer, der Blumen im Winter sah? «
Wille behauptete, Felix hätte ein oberflächliches Wesen. Aber der war auch ein Draufgänger, in seiner Nähe fingen selbst die Eisblumen an zu grünen.
Felix pflückte eine karierte Fritillarie, die neben ihm auf einem Fensterscheibchen erblühte und reichte sie Brigid.
Wille war Reif und Schnee und Philisterei. Brigid war Bohème, immer Sinnenfreude und seliger Leichtsinn, ihr Leben ein einziges rauschendes Fest. Wille war dafür nicht aufregend genug.
Brigid hielt die Schachbrettblume kurz an ihre Wange und ließ sie dann achtlos auf den Tisch fallen.
Heimlich nahm Wille die Blüte auf und führte sie scheu an seine Lippen.
»Schaue nach dem einen Blatte, hänge meine Hoffnung dran.«
Berne war ein Burgdorf erbaut aus Holz und Lehm auf Sockeln von Findlingssteinen. Rauchfahnen wehten über den Dächern und obwohl es Winter war, klapperten Störche auf einem Dach. Felix fand eine Gedenktafel.
»Guck mal wer hier auch geboren ist – noch ein Dichterkollege!
Dödel Bolle,
Barde und Erfinder von Prägnantsprech
Hat der nicht dieses Lied geschrieben:
Boäh, ey. Take me tonight to B-e-erne ... un' denn funkeln alle Ste-erne ...?«
»Wusste ich gar nicht, dass Bolle auch aus dem Heldenvolk der Stedinger stammt.«
» ... der verkauft jetzt Dörrfleisch vom Superfrosch!«
» ... früher hat er selber mal gesungen: Du bist mein Herz - du bist meine Seele ...«
» ... und seither verfolgt den auch eine Groschenspur ... «
Kopfschüttelnd gingen wir weiter zu einem kleinen Kaufmannskramladen. Auf der Fensterscheibe stand:
‚Heini Wigga - Kohlrouladen zum Selberfertigbraten und Holzschuhe'.
Ein Ritter mit wehendem Mantel und blinkendem Visier erschien. Er zog sein Ritterschwert auf dem die Inschrift ‚Nedrusc' blitzte, fuchtelte damit vor Heini herum und brüllte:
»Steding!«
Heinis vorher freundliches Gesicht wurde böse.
»Edeling!«, schrie er zurück: »Snack. Ik luster!«
»König der Himmel«, rief der Edelherr und holte aus.
Heini zog einen Holschen über die Hand und haute zu.
»Slag de Krüzfahrer dood«, und der Ritter kippte samt Schwert in die Ollen.
»Stedingsehre«, grinste Heini zu uns herüber.
Am nächsten Tag schenkte Felix uns ein Bildnis und zwinkerte verschwörerisch:
»Die Schlagzeile ist von mir.«
Wille verzog das Gesicht als ob er Schmerzen litte.
In Riesenlettern prangte auf der Titelseite:
Irre ! Hinni Wigga verwuppt den Ritter ! Toll !
Heini – Die Faust der Stedinger! Kaufen Sie Heinis Holzklompen:
Für Danz op de Deel bei Drieling oder kanns' auch bei'n Ollenfest
mit über's Wasser laufen.
Ich las weiter und beim Aufblättern der vorletzten Seite tröpfelte plötzlich dunkles Blut aus der Zeitung hervor:
Erneuter Kampf! Gebanntes Volk vom Schwert getroffen! Schlacht bei Altenesch, Heer der Kreuzfahrer, blanke Schwerter, farbige Banner, stampfende Pferde. Ritter Heinrich von Brabant und Floris von Holland führen gepanzerte Streithengste rückwärts in Reihen der Bauern. Stedinger nur mit Lederschild, Sensen und Forken. Übermacht der Angreifer, Stedinger verteidigen sich wütend, Röcheln der Sterbenden, Boleke und Tammo tot, Bauernheer niedergemetzelt, Erde rot von Blut. In Bremen läuten Kirchenglocken. Dankesprozession für gefallene Edelherren. Muttergottes lächelt unter Baldachin. Stedinger geben ihr Land verloren.
Das ‚Wochenblatt für gebildete Stände' druckte Willes Lieder des Lebens, der Liebe und der bitteren Wahrheiten.
'Für unser verehrtes Bildungspublikum von dem sozialkritisch gesonnenen Reiseschriftsteller Wille Melle, der vor kurzem mit einer irritierenden Aussage an die Öffentlichkeit trat, indem er behauptete, die Regierenden seien Herren und die Untertanen Hunde, die mit den Ketten rasselten. Hier nun sein Kommentar zu den aktuellen Vorfällen':
Wie hat der Sturm zerrissen des Himmels graues Kleid! Die Wolkenfetzen flattern ... und rote Feuerflammen ziehn zwischen ihnen hin.
Viele Winter später, als wir längst alle wieder gemütlich und sicher zu Hause und die schlimmen Ereignisse fast vergessen waren, fand ich beim Aufziehen der Meerweibchenuhr, die wieder spielzeugklein auf dem Beistelltisch in der Bibliothek stand und nur die Zeit anzeigte, eine Nachricht, verborgen in einem blutverkrusteten Banner. Vorsichtig wickelte ich es auseinander. Teile der Botschaft konnte man noch entziffern:
... einziger Kreuzzug auf deutschem Boden! Papst gibt Kirchlichen Gnadenerlass für Stedinger! ... sie werden vom Bann gelöst und die Erde wird wieder geweiht ... da die geschlagenen Bauern in einem Massengrab mit den gefallenen Kreuzfahrerrittern liegen ...
ENDE
© Ollivia Moore
Glossar:
Hermann Allmers
Marschendichter aus Rechtenfleth *11.2.1821 +9.3.1902
Literarisches Skizzenbuch ‚Römische Schlendertage’
Bremer Ratskeller
Priölkenséparée (plattdeutsch für ‚verschwiegene Laube’) Diskretes Besprechungsabteil
Die zwölf Raunächte
Heilige Nächte vom 24. Dezember bis 5. Januar
Odin zieht mit seinem Heer in der Wilden Jagd über den Himmel
Erzbischof von Bremen, Gerhard II
will die Stedinger zu höheren Abgaben zwingen und unterwerfen
Anklage der Ketzerei auf der Fastensynode im März 1230
Holschen = Holzschuh
Kiekpadd
Naturstandorte von Kopfweide, Schachbrettblume und
Krebsschere in der Wesermarsch
Landwehrgraben
Graben mit steinernem Verteidigungswall
Norddeutsche Speisespezialitäten
Labskaus, Grünkohl mit Pinkel, Eiswetteschnaps
Ollen = alter Weserarm
Ollenfest mit Schwimmschuhrennen
Papst Gregor IX
bildete 1231 die ‚Inquisition der häretischen Verderbtheit’ und
rief mit einer päpstlichen Bulle 1233 zu einem Kreuzzug auf.
Vernichtende Niederlage der Stedinger gegen das Kreuzfahrerheer in der ‚Schlacht von Altenesch’.
1299 Errichtung einer Kirche zu Altenesch, vermutlich auf einem Massengrab.
1235 nahm Papst Gregor IX das Urteil von der Verfluchung der Stedinger zurück.
Pasquillen = Schmierblätter
Schwert Nedrusc
Ritterschwert aus dem 13. Jahrhundert.
1926 Vertiefung der Ollen bei Berne mit einem Schwimmbagger, dabei wurde ein Schwert geborgen und an das Naturhistorische Museum in Oldenburg übergeben.
Eingelegte Schrift (Schwertsegen) NEDRUSDRC:
‚Im Namen des ewigen Gottes, König der Himmel’
Stedinger Land = Weserflussmarsch
Rechtes Weserufer zw. den Flüssen Ochtum und Liene, bis an die Oldenburger und Delmenhorster Geest
Stedinger Siegel
Communitatis Terre Stedingorum auf Urkunde vom 30.6.1392,
abgebildet ist eine Christus-Statue im Volto Santo-Typ
(Gekreuzigter in langem gegürteten Gewand).
Mögliche Verwechslung mit einer Heiligen namens
Hl. Kümmernis /Sankt Wilgefortis/Heidenprinzessin, ebenfalls abgebildet mit Kleid, Bart und langem Haupthaar am Kreuz.
Stedingsehre
Obelisk, Mahnmal in Altenesch/Lemwerder zum Gedenken an die Schlacht von Altenesch
Inschrift: 1234 unterlag den mächtigen Feinden das tapfere Volk
Störche im Winter
Storchenstation Berne-Glüsing
Die historischen Persönlichkeiten soll es gegeben haben. Handlung
und Charaktere sind erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig.
Eine gekürzte Version erschien als
'Meerweibchenuhr und Kreuzfahrt im Stedinger Land' in
'Wenden - Lesebuch für die Wesermarsch', Geest-Verlag Vechta, 2012
ISBN:978-3-86685-371-3